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26. April 2024

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Im Bauch des Unternehmens

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Die psychodynamische Organisationsberatung hat das Unbewusste im Visier.

Die Geschehnisse sind eigenartig: In einer Nacht- und Nebelaktion hat der renommierte Software-Konzern die kleine, aber hochkarätige Entwicklerfirma gekauft, die für ihre Innovationskraft bekannt ist. Und in einer Nacht- und Nebelaktion hat er dafür nicht weniger als 240 Mio. Euro an deren Gründer gezahlt.
Nicht eigenartiger aber ist, was dann passiert: Schon nach sechs Wochen wird klar, dass der Neuzukauf bei weitem nicht das Know-how bietet, das man sich erwartet hat. Woraufhin allen Ernstes erwogen wird, noch einmal auf „Einkaufstour“ zu gehen. Schließlich ist man noch immer meilenweit davon entfernt, das für Herbst angekündigte, neue Spitzenprodukt tatsächlich in acht Monaten ausliefern zu können. Was allmählich problematisch wird.

Rationalität ist Fiktion
Natürlich ist das ein fiktives Beispiel. Allerdings: Unternehmerische Irrationalitäten, die sich zum Beispiel in halsbrecherischen „Einkaufstouren“ von Konzernen äußern, gibt es immer wieder. Auch in Zeiten eines Wissensmanagements, das Firmen in neue Sphären der Rationalität erheben will.
Dass selbst die schönste Wissensbilanz nichts hilft, wenn erst einmal gewisse Dynamiken in Gang gekommen sind, liegt dabei daran, dass Wissen nicht vor Irrationalität schützt. Irrationalitäten in obigem Sinne haben ihre Wurzeln nämlich in etwas ganz anderem, wie schon Sigmund Freud aufgezeigt hat. Sie liegen im Unbewussten. Also in verdrängten Wünschen, Ängsten oder auch Ideen.
Was aber oft vergessen wird. Speziell in Organisationen und Unternehmen, in denen dieses Unbewusste freilich auch an der Arbeit ist. Denn was sonst führt zu solch eigenartigen Adhoc- Strategien, die Konzerne einen Zulieferer rasch einmal „schlucken“ lassen?
Psychoanalytisch gesehen, so erfährt man in „Psychodynamische Organisationsberatung“ von Mathias Lohmer (erschienen im Klett-Cotta Verlag, zweite Aufl age 2004), kann hinter einer derartigen Vorgehensweise ein ins Unbewusste verdrängter Konflikt stehen. „Kann“, wie gesagt, weil es freilich auch möglich ist, dass es sich bei dieser Strategie um knallhartes Kalkül handelt. Konkret ein Konflikt, der zum Beispiel darauf beruht, dass ein Unternehmen ein hochinnovatives Produkt auf den Markt bringen will, zugleich aber größte Bedenken hat, ob dieses Produkt auf dem Markt tatsächlich funktioniert.
Wird dieser Konflikt verdrängt, kann das zweierlei Folgen haben: Einerseits wird wahrscheinlich kein vernünftiges Risikomanagement entwickelt, wie Lohmer erläutert. Andererseits kommt es aber auch zur Ausbildung von „Symptomen“ im Unternehmen, über die das Verdrängte in entstellter Form in das Bewusstsein zurückkehrt. Und dort etwa zur Benutzung von Phrasen wie „Wir schaffen das schon!“ führt.

Freies Assoziieren
Das wiederum hat möglicherweise zur Folge, dass in der Firma eine ganze „Wir schaffen das schon!“-Kultur entsteht, zu der es nach einiger Zeit auch gehört, dass immer mehr Dinge schnell und ohne große Absicherung passieren. Bis schließlich ein extrem risikoreiches und „kurzsichtiges“ Agieren zum Normalmaß geworden ist.
Mit Argumenten, Zahlen und Fakten lässt sich eine solche Kultur dann nicht mehr verändern: Ihr „Das schaffen wir schon!“ gleicht irgendwann einem „inneren Objekt“, zu dem eine tiefe emotionale Bindung besteht, die sich jeder rationalen Bearbeitung entzieht.
Aus genau diesem Grund wurde in Großbritannien die „psychodynamische Organisationsberatung“ entwickelt, an die in Deutschland Lohmer und andere anschließen. Ihr Fokus liegt auf ebensolchen Verdrängungen und deren „kulturellen“ Auswirkungen, zu deren Bearbeitung sie ein ganzes Set an „Werkzeugen“ aus der Psychoanalyse und deren Umfeld adaptiert hat; beispielsweise die so genannte „Balint-Gruppe“, die an der britischen Tavistock-Klinik entwickelt worden ist.
Von zentraler Bedeutung ist in dieser die Arbeit mit dem „freien Assoziieren“, das heißt mit dem Aussprechen von dem, was einem gerade in den Sinn kommt: Zwölf bis 15 Personen – Programmierer, Entwickler, Projektleiter und Manager, um bei dem Beispiel des fiktiven Software-Konzerns zu bleiben – werden zu Beginn von einem Referenten über ein bestimmtes Problem informiert. Etwa darüber, dass sich ob der unfruchtbaren Ad-hoc-Käufe in der Firma allmählich Unruhe auszubreiten beginnt.
Nach der Darstellung des Referenten beginnt die Gruppe ohne selbigen über die Inhalte frei zu assoziieren – wobei es laut Lohmer jeder Gruppe rasch gelingt, zu den unbewussten Problemen, um die es geht, vorzudringen. Nach einiger Zeit wird dann der Referent nach seinen Emotionen, Stimmungen und überhaupt nach seinem Eindruck vom Geschehen gefragt. Woraufhin die Gruppe mit der Deutung des durch das freie Assoziieren angefallenen „Materials“ beginnt. Um unter Umständen festzustellen, dass der Hintergrund des ganzen Geschehens ein verdrängter Konflikt zwischen Innovationsdruck und Innovationsangst ist. Was schließlich eine Lösungssuche möglich macht, die jenseits spontaner Ad-hoc-Strategien angesiedelt ist.
„Zuerst der Bauch – dann die Vernunft“ ist also gewissermaßen das Motto der „Balint“- Gruppe. Das gilt aber auch für die psychodynamische Organisationsberatung generell. Und dieser Ansatz macht sie so interessant: Beispielsweise als Ergänzung diverser systemischer Ansätze, die ja primär beim Kopf und beim Denken ansetzen: Mithilfe psychodynamischer Konzepte lassen sich auch „Schichten“ der Unternehmung erreichen, die sonst im Verborgenen bleiben. Schichten, die oft die wirklichen „Schuldigen“ sind, wenn wieder einmal Mio. Euro in den sprichwörtlichen Sand gesetzt worden sind. Das Loch im Budget hätte sich vermeiden lassen.

Ausgewählter Artikel aus dem Jahr 2006

Rita Michlits, Christian Eigner, Economy Ausgabe 11-05-2006, 15.04.2015