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17. Juli 2024

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Nachhaltiges Wirtschaften mit Augenmaß

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André Martinuzzi: „Es ist eine politische Entscheidung, wie krisenfest wir unsere Marktwirtschaft gestalten.“

Der Wirtschaftswissenschaftler André Martinuzzi hat (gemeinsam mit Michal Sedlacko) im Auftrag des Ökosozialen Forums Österreich und gefördert vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung die Studie Bausteine einer krisenfesten Marktwirtschaft. Bestandsaufnahme und Abgrenzung des Forschungsbedarfs in den Wirtschaftswissenschaften erstellt.

economy: Angesichts der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit stellt sich die Frage: Kann es denn überhaupt eine krisenfeste Marktwirtschaft geben?
André Martinuzzi: Es ist eine politische Entscheidung, wie krisenfest wir unsere Marktwirtschaft gestalten. Wer jährliche Renditen von 15 Prozent oder mehr erzielen will, muss dafür ein gewisses Risiko in Kauf nehmen. Dieses Risiko ist umso höher, wenn die Renditen nicht aus realer Wertschöpfung, sondern aus Finanztransaktionen und Spekulationen stammen. Das haben private Anleger, Banken und Gemeinden in den letzten Monaten schmerzlich erfahren. Die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise war daher kein „Betriebsunfall“, sondern ein systemischer Fehler, der künftig vermeidbar wäre. Dazu ist es jetzt dringend erforderlich, die Rahmenbedingungen anders zu gestalten.

Welche Rahmenbedingungen beziehungsweise Kriterien müssen dazu erfüllt werden?
Eine nachhaltige Wirtschaftsordnung muss individuelles Engagement fördern und gleichzeitig die Zukunfts- und Lebensfähigkeit von Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft sicherstellen. Ein Überwälzen von Risiken oder Kosten auf die Allgemeinheit oder auf künftige Generationen ist zu unterbinden, damit kein Wettbewerb „nach unten“ entsteht.
Während in den letzten Jahren die Regulierungsmöglichkeiten nationaler Regierungen abgebaut wurden, haben internationale Institutionen diese Funktionen nicht übernommen. Die weltweite Finanzkrise und ihre weitreichenden Folgen für die Realwirtschaft zeigen, dass ein Auf- beziehungsweise Ausbau derartiger Institutionen dringend erforderlich ist.

Wie sieht es in puncto Kompetenzverteilung aus? Also, wer hat welche Aufgaben zu übernehmen?
Wenn wir Gewinne privatisieren und Verluste als Allgemeinheit tragen, gefährden wir den sozialen Zusammenhalt und höhlen unsere sozialen Errungenschaften aus. So geht es also nicht. Gleichzeitig müssen wir die Illusion einfacher Steuerbarkeit hinterfragen und Prozesse der Selbstorganisation ins Blickfeld nehmen. Die Wirtschaftswissenschaften können in diesem Bereich von neuesten Erkenntnissen der angewandten Ethik, der Sozialpsychologie und der Systemtheorien profitieren, die der Komplexität sozialer Systeme gerecht werden.

Ihre Studie versteht sich als Basis für ein zu installierendes Forschungsprogramm. Wie liegt Österreich im Vergleich zu anderen Ländern? Welchen praktischen Nutzen würde die Politik daraus ziehen?
Wir haben in Österreich sehr gute Forschungsprogramme zum nachhaltigen Wirtschaften auf betrieblicher und regionaler Ebene. Zu volkswirtschaftlichen Fragen gibt es bisher keine vergleichbaren Programme. Hier laufen wir Gefahr, den Anschluss an internationale Entwicklungen zu verlieren und in der politischen Debatte keine fundierten Positionen vertreten zu können. Das von uns konzipierte Forschungsprogramm soll Forschung mit Handlungsorientierung kombinieren, interdisziplinär angelegt sein und Impulse setzen, die Österreich im Blickpunkt haben, aber auch zur Erarbeitung europäischer und globaler Strategien beitragen. Ziel ist es, der österreichischen Politik wissenschaftlich fundierte, konkrete Handlungsempfehlungen zur Verfügung zu stellen, um künftige Krisen zu vermeiden und die gesellschaftliche Akzeptanz der Marktwirtschaft sicherzustellen.

Fragen, die die Welt bewegen
Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise hat zu einer Diskussion von nationalen und globalen Rahmenbedingungen und Kontrollmechanismen geführt.
Das derzeit verfügbare ökonomische Wissen und die darauf aufbauenden Instrumente der Wirtschaftspolitik sind weder für effektive Prävention noch für den erfolgreichen Umgang mit Krisen dieser Größenordnung ausgelegt. Daher sind Forschungsarbeiten erforderlich, um künftige Krisen zu minimieren oder zu vermeiden.
Im Projekt „Bausteine einer krisenfesten Marktwirtschaft“ wurde eine Bestandsaufnahme wirtschaftswissenschaftlicher Theorien und Ansätze für eine krisenfeste Marktwirtschaft durchgeführt und daraus offene Forschungsfragen abgeleitet.
Die im Rahmen von Workshops und Interviews mit internationalen Experten erarbeite­ten Forschungsfragen legen ein besonderes Augenmerk auf Praxisorientierung und politische Relevanz und sind in drei Themenfelder geteilt:
1. Verbesserungen der Wirtschaftsrahmenordnung: Welche Mechanismen und institutionellen Voraussetzungen braucht das Weltfinanzsystem, um Umwelt- und Sozialwirkungen zu berücksichtigen? Welche innovativen sozialen Sicherungsinstrumente weisen ausreichende Krisenfestigkeit auf? Wie kann Stabilität, Robustheit beziehungsweise Krisenfestigkeit von Wirtschaftssystemen abgeschätzt werden, um Aussagen über Trends und Effekte von Interventionen zu ermöglichen?
2. Dauerhafte Sicherung wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Ressourcen: Wie könnte eine an Beständen orientierte Volkswirtschaft(stheo­rie) aussehen, die auch Natur- und Sozialkapital berücksichtigt? Welche Ursachen und welche Folgen hat die dem aktuellen Wirtschaftssystem immanente Wachstumsdynamik? In welchen Bereichen ist Versorgungssicherheit wichtiger als freier Handel und Economies of Scale?
3. Intelligenter Umgang mit komplexen sozialen Systemen: Wie können Systemtheorien, konstruktivistische Ansätze und verhaltensökonomische Ansätze als sozialwissenschaftliche Interventionstheorien genützt werden? Wie sind die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse zu gestalten? Welche Instrumente und Stimuli sind zu welchem Zeitpunkt in der Entwicklung und Verbreitung technischer und sozialer Innovationen sinnvoll oder erforderlich?

Links

Economy Ausgabe 77-09-1008, 23.10.2009