Das neue Great Game
In der zentralasiatischen Region um das Kaspische Meer liegen die größten Energiereserven der Welt. Ende des 19. Jahrhunderts prägte der Dichter Rudyard Kipling für das Ringen um Vorherrschaft in Zentralasien zwischen dem britischen Empire und dem russischen Zarenreich den Begriff „The Great Game“. Heute sind wir mitten in einemWiederholungsspiel mit neuen Mitwirkenden.
„Amerika ist süchtig nach Öl, das oft aus instabilen Teilen der Welt importiert wird“, rief Bush und versprach, dass „bis zum Jahr 2025 die Ölimporte aus dem Nahen Osten zu 75 Prozent ersetzt werden“. Eine kleine Sensation, diese Worte eines Texaners, dessen Familie im Öl-Business steinreich geworden ist. Neben dem Ausbau alternativer Treibstoffe wie Ethanol soll das Energie-Angebot diversifiziert werden. Dass die USA ein Ende ihrer Ölsucht dringend nötig haben, zeigt ein Blick in die unverdächtige Weltenergiestatistik des Erdölmultis BP vom Juni 2005: Wenn man die gesicherten US-Ölreserven an der derzeitigen Produktionsmenge misst, sind die USA in 9,6 Jahren zu 100 Prozent von Importen abhängig.
Zentralasien im Fokus
Europa ohne Eurasien droht diese Abhängigkeit schon zwei Jahre früher. Mit eurasischen Ölreserven käme man allerdings 21,6 Jahre aus, könnte man diese alleine ausbeuten. Der Nahe Osten kann dafür aus seinen Reserven noch 81,6 Jahre fördern. Statistisch gesehen hat die Erde noch für 40,5 Jahre Öl, sollten nicht neue Lagerstätten gefunden werden. „Auf lange Sicht“ führt also trotz der enormen Energiereserven in Zentralasien kein Weg an der Opec vorbei, meinen Pessimisten. Trotz allem geben die Ressourcen am Kaspischen Meer den Verbraucherländern Zeit, um Alternativen zu entwickeln und die Abhängigkeit vom Opec-Öl abzuschwächen, entgegnen Optimisten. Außerdem – man verweist auf den großen Ökonomen John Maynard Keynes – sind wir „auf lange Sicht“ sowieso alle tot. Ab der Öl-Krise 1973, als das Opec-Kartell die Produktion um fünf Prozent drosselte, wurde das Brechen der Abhängigkeit vom arabischen Öl zum großen strategischen Ziel. Der Ölpreis stieg von drei auf fünf US-Dollar pro Barrel (159 Liter), was zur größten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg führte. 1974 erhöhte sich der Fasspreis auf rund zwölf US-Dollar. Von den heutigen geradezu gigantischen Preissprüngen war man damals noch weit entfernt. Doch es war klar, dass die Opec-Staaten als unsichere Kantonisten zu gelten hatten: Der Startschuss für das Rennen um neue Energieressourcen war gefallen. Das neue „Great Game“ konnte beginnen, gleichzeitig wurde die Ölförderung in Afrika, Südamerika und in Kanada intensiviert. Der britische Dichter Rudyard Kipling hatte den Begriff des „Großen Spiels“ in seinem Roman „Kim“ bekannt gemacht und damit den geopolitischen Machtkampf um Zentralasien im 19. Jahrhundert zwischen dem britischen Empire und dem Zarenreich beschrieben. Der Ausdruck „Großes Spiel“ selbst wird dem britischen Geheimdienstagenten Arthur Conolly zugeschrieben, der in Zentralasien spionierte, aufflog und 1842 umgehend von empörten Afghanen gehenkt wurde.
Militärische Diplomatie
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 trat das Wiederholungsspiel in seine heiße Phase, und neue Mitwirkende drängten auf den Platz: Zu den Großmächten Russland und USA gesellten sich die Regionalmächte China, Iran, Türkei und Pakistan sowie transnationale Ölkonzerne, die in diesem Machtvakuum in gewohnt rauer Manier agierten. Die USA, und in ihrem Windschatten die multinationalen Ölkonzerne, gingen bei diesem Rennen um Ressourcen in Führung. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 ließ George Bush seine Truppen aufmarschieren. In den postsowjetischen Republiken Georgien, Kirgisien und Usbekistan wurden Militärbasen errichtet, eine US-geführte Koalitionsarmee schlug nach intensiven Bombardements das fundamentalistische Taliban-Regime in Afghanistan binnen zwei Wochen nieder. Der Blitzsieg der US-dominierten Verbände ließ einige Militärexperten aber auch auf eine sorgfältige Vorbereitung des Feldzuges schließen, die lange vor 9/11 begonnen haben musste.
Die Stationierung von US-Kampftruppen in ehemals sowjetischem Einflussgebiet veränderte die geopolitische Balanz nachhaltig. Mit ihrem „Krieg gegen den Terrorismus“ konnten die USA drei Fliegen auf einen Streich erlegen: Die Schlinge um den „Schurkenstaat“ Iran wurde fester zugezogen, der Sieg im Kalten Krieg über Moskau wurde einzementiert, und der wachsende Einfluss Chinas konnte zurückgedrängt werden. Von den USA umworben wurden Ex- Sowjetrepubliken wie Aserbaidschan, Kasachstan, Georgien, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgisien. Diese Staaten werden bis auf Georgien von Autokraten regiert und sind von westlichen Demokratievorstellungen weit entfernt. Ein eigenwilliges Verständnis von Rechtsstaatlichkeit, ethnische Spannungen und beginnender islamischer Fundamentalismus prägen die Lage. Der von den USA geführte Krieg im Irak verschärfte die Situation in der benachbarten Region. Die USA sind auf die Nutzung ihrer Militärbasen vor Ort angewiesen, es besteht Interesse an Stabilität, nicht am Ausbau der Demokratie. Neuer Ölrausch Ölgiganten wie Chevron Texaco, Exxon Mobil, British Petroleum, Royal Dutch Shell, Eni Agip, Statoil oder Total Fina Elf packte dennoch der voraussichtlich letzte große Ölrausch in der Geschichte der Menschheit. Sie bildeten unter Einbeziehung russischer Ölriesen konzernübergreifende Konsortien und begannen mit der Ölförderung. Zwar liegen die Schätzungen der Reserven im kaspischen Raum zwischen 35 und 150 Mrd. Barrel (bis zu 24 Billionen Liter) und klaffen somit weit auseinander. Aber das US-Energieministerium ging noch im Jahr 2005 davon aus, dass allein in Kasachstan und Aserbaidschan mindestens 120 Mrd. Fass zu fördern seien. Das Ölförderpotenzial der Region soll im Jahr 2010 bei 3,8 Mio. Barrel pro Tag liegen.
Die Erdgasvorräte werden auf sieben bis neun Billionen Kubikmeter geschätzt. Allein die US-Ölkonzerne haben bisher schon mehr als 35 Mrd. US-Dollar (29,1 Mrd. Euro) in neue Produktionsanlagen investiert. Alle Spieler des neuen „Great Game“ beschäftigt aber ein Problem: Die Öl- und Erdgasfelder am landumschlossenen Kaspischen Meer liegen tausende Kilometer von geeigneten Hochseehäfen entfernt. Deshalb sind Pipelines erforderlich, was seit Jahren blutige Konflikte nährt. Moskau, das sich als imperialer Gebieter über seinen „Hinterhof“ versteht, besteht auf Pipeline-Routen, die über sein Hoheitsgebiet im Nordkaukasus verlaufen. Vor diesem Hintergrund wird auch der brutale Militäreinsatz der Russen in Tschetschenien erklärbar. Einfluss auf die Öl- und Gasgeschäfte nehmen die russischen Konzerne Lukoil und Gazprom als verlängerter Arm des Kreml. Der Ölkonzern Lukoil ist in den wichtigsten Konsortien Aserbaidschans und Kasachstans vertreten, bleibt aber vor allem am Absatz des Erdöls aus seinen sibirischen Vorkommen interessiert. Beide Konzerne befinden sich in einem Interessenwiderspruch: Einerseits wollen sie vom Erdöl- und Erdgasgeschäft in der Region profitieren, andererseits fürchten sie die entstehende Konkurrenz. Politisch gesehen toleriert Moskau zwar vorerst die USPräsenz in der Region als „neue strategische Allianz gegen den Terror“. Die tatsächliche Motivation, an der Russlands Präsident Wladimir Putin kaum Zweifel aufkommen ließ, war, der Wirtschaft mittels ausländischem Kapital wieder auf die Beine zu helfen. Besonders ärgerte die Russen die Fertigstellung einer Pipeline von der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku über Georgien in den türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan im Mai 2005, die russisches Gebiet umging. Der Bau dieser 1.700 Kilometer langen Rohrleitung kostete rund 3,8 Mrd. US-Dollar, die Leitung wird mit US-Unterstützung hauptsächlich von BP betrieben. Um sich gegen den US-Einfluss abzusichern, schloss Putin neue Sicherheitsverträge mit den Herrschern in Zentralasien. So eröffnete er persönlich in Kirgisien eine Militärbasis, die nur 50 Kilometer von der dortigen US-Airbase entfernt liegt. Auch Peking ist über die US-Präsenz im mehrheitlich muslimischen Zentralasien alles andere als glücklich. Es fürchtet, dass die muslimischen Uiguren in der Provinz Xinjiang von den USA zu Aufständen verleitet werden. China veranstaltete deshalb erstmals Militärmanöver gemeinsam mit Kirgisien und verstärkte seine Beziehungen zu Usbekistan. Auf dem Erdgassektor liegen die Dinge ein wenig anders. Erstens ist Erdgas noch für mindestens 66,7 Jahre verfügbar, wenn man die gesicherten Reserven durch die derzeitige Jahresproduktion teilt. Die Fördermengen nehmen laut Weltenergiestatistik von BP aber dramatisch zu, da Erdgas im Gegensatz zu Erdöl emissionsärmer und damit umweltschonender ist. Zweitens sind nahezu vier Fünftel der gesicherten Erdgasreserven der Welt in Russland, dem kaspischen Raum und im Iran konzentriert, was theoretisch eine Ausbeutung erleichtert. Das Problem bleibt jedoch der Transport.
Die Verflüssigung von Erdgas – die Abkühlung auf minus 162 Grad Celsius, um es per Tanker transportieren zu können – rechnet sich noch nicht. Deshalb ist man wesentlich stärker als bei Öl auf Pipelines angewiesen, um die Verbrauchermärkte zu erreichen. Der Mangel an Leitungen führt auch dazu, dass man noch lange nicht die Produktionslimits erreicht hat. Schaltzentrale Kreml Europa benötigt jetzt schon mehr Gas als alle anderen Regionen der Welt zusammen. Und es bezieht sein Erdgas zu zwei Drittel aus Russland. Darin liegt ein beträchtliches Abhängigkeitsrisiko. Man muss Putin fast dankbar sein, dass er Europa durch seinen Gasstreit mit der Ukraine dieses Problem wieder bewusst gemacht hat: Ohne „Gospodin GasPutin“ ginge nichts mehr auf dem alten Kontinent. Im Fall der Ukraine hat Putin gezeigt, wie man Erdgas einsetzen kann. Noch im Sommer 2004 schloss Gazprom mit der Ukraine einen fünfjährigen Liefervertrag. Mickrige 50 US-Dollar pro 1.000 Kubikmeter Gas sollte Kiew zahlen. Nach der „orangen Revolution“ muss die Ukraine plötzlich rund 230 US-Dollar berappen. Andere Staaten wie beispielsweise der kreuzbrave Vasall Weißrussland mit dem irrlichternden Präsidenten Alexander Lukaschenko zahlen heute 46 US-Dollar, den baltischen Staaten wurde der Preis von 80 auf 120 US-Dollar erhöht. Ein Schelm, wer da mit Marktwirtschaft argumentiert. Für Europa gilt der Weltmarktpreis von 250 US-Dollar, Lieferschwierigkeiten sind in den letzten Jahrzehnten unbekannt. Einen Anlauf, um nicht völlig vom russischen Monopol abhängig zu sein, unternimmt derzeit die OMV. Unter anhaltendem Jubel der EU plant man die sogenannte Nabucco-Pipeline von der Türkei bis Österreich. Die 3.300 Kilometer lange Leitung soll 4,6 Mrd. Euro kosten.
Eine Machbarkeitsstudie liegt vor, die Trasse ist bereits festgelegt. Die Pipeline soll zentralasiatische Gasfelder mit Europa verbinden, erklärte OMV-Sprecher Thomas Huemer gegenüber economy , Finanzierungsmöglichkeiten würden derzeit überprüft. Spätestens im Jahr 2007 könnte der Bau begonnen werden. Die OMV würde dann als Betreiber eine Schlüsselrolle im Pipeline-Netzwerk spielen. Die Nabucco-Leitung sei als Ergänzung zu russischen Lieferungen geplant, deshalb verärgere man den Kreml nicht, ist Huemer sicher. Auch Russland könne sein Gas über die nicht ausgelastete Bluestream-Pipeline durch das Schwarze Meer einspeisen. Über Verträge mit Gasproduzenten und Vermarktern wollte Huemer nichts sagen: „Das wird erst bei Abschluss veröffentlicht.“ Der Wendepunkt Trotz allem gibt es keinen Zweifel, dass Erdöl und Erdgas endliche Güter sind. Der renommierte britische Geologe Colin Campbell, die „Kassandra der Ölindustrie“, steht einem internationalen Netzwerk von Wissenschaftlern (Aspo) vor, die vor dem Ende des Ölzeitalters warnen. Campbell prägte den Begriff „Peak Oil“. Demnach werde die weltweite Ölproduktion 2010 ihren Höhepunkt erreichen und dann konstant fallen, weil schlicht und einfach nicht mehr Öl vorhanden sei. Die Produktion werde bei explodierenden Preisen jährlich um mindestens 2,5 Prozent zurückgehen. „Der Ölpeak ist der größte Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit“, warnt Campbell, der den derzeitigen Rückgang der Förderung in der Nordsee präzise vorausgesagt hatte. Jüngeren Generationen müsse man sagen, sorry, wir hatten die Party, ihr müsst jetzt aufräumen, lautet Colin Campbells Conclusio.
Ausgewählter Artikel aus Printausgabe 03/2006