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28. März 2024

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Erkenntnis statt Eskalation

Erkenntnis statt EskalationCarla Müller

Konflikte haben durchaus Sinn. Zumindest dann, wenn man sie als produktive Widersprüche zu betrachten versteht. Dann können sie Unterschiede herausarbeiten, aber auch die Einheit im Unternehmen herstellen helfen. Und sie werden zu: konstruktiver Energie.

Konflikte treten so allgegenwärtig auf, dass man meinen könnte, wir hätten uns längst daran gewöhnt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall: Wir regen uns fürchterlich auf, wenn in der Firma nicht alles nach Wunsch läuft. Wir verzweifeln bisweilen unter diversen und unvorhersehbaren Schwierigkeiten, in die unsere Projekte geraten. Und so manche profunde Sinnkrise, in die wir schlittern, wird dezidiert durch einen bereits seit Langem schwelenden Konflikt ausgelöst, der uns die Frage nach der eigentlichen Motivation unseres Handelns permanent vor Augen führt. In genau solchen „Momenten der fundamentalen Ratlosigkeit“ verstehen wir die Welt nicht mehr, verstehen nicht, warum unser berufl icher Alltag von Konfl ikten durchzogen ist, kurz: wir wollen endlich wissen, warum diese unangenehmen Lebensbegleiter so unweigerlich in Erscheinung treten.
Der Gruppendynamiker Gerhard Schwarz kennt diese Fragestellung aus unzähligen Beratungsgesprächen: „Viele meinen, Konflikte sollten in Organisationen gar nicht auftreten. Treten sie dennoch auf, dann hat irgendjemand irgendetwas falsch gemacht. ‚Konflikte sind Führungsfehler‘, sagte mir einmal eine hohe Führungskraft eines Großunternehmens.“ Eine Ansicht, die der Experte für Konfliktmanagement für extrem irreführend hält, weil sie nicht der „Natur der Sache“ entspricht. Wie sehr Konflikte durchaus Sinn ergeben können, das zeigt Schwarz an einem verbreitet beobachtbaren ökonomischen Beispiel: „So fungiert etwa der Markt in vielen Unternehmen als Widerspruch, den die Verkaufsorganisation etwa gegen die Produktion aufrechterhält. Dürfen die einen nur produzieren, was die anderen im Markt absetzen können, oder müssen die Verkäufer im Markt alles absetzen, was produziert wird? Die Unterordnung des einen Bereichs, zum Beispiel des Verkaufs, unter den anderen, zum Beispiel die Produktion, würde zwar den Widerspruch aus der Welt schaffen, dies würde aber auf Kosten der Entwicklungsfähigkeit der Organisation gehen.“ Was Schwarz zu dem logischen Schluss verleitet: „Man könnte hier die Regel aufstellen: Je mehr Widersprüche eine Organisation verträgt, ohne ihre Funktionsfähigkeit einzubüßen, desto besser kann sie sich weiterentwickeln, zum Beispiel sich rascher an Veränderungen anpassen. So lösen etwa neue Technologien notwendige Konflikte aus, deren Austragung erst Weiterentwicklung garantiert.“

Struktur ist das Problem
In eine ganz ähnliche Kerbe schlägt auch der Leiter des Instituts für Philosophie und Gruppendynamik an der Universität Klagenfurt, Ewald Krainz, wenn er analysiert: „Das Verhältnis von Produktion und Verkauf ist systembedingt und kann daher gar nicht anders sein als konfl ikthaft. Denn obwohl beide Bereiche vermeintlich nur ein Interesse haben können, das Wohl der Firma nämlich, stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass beide ‚unterhalb‘ dieses Firmeninteresses konfl igierende Bereichsinteressen haben. Das Interesse des Verkaufs ist, möglichst kundenorientiert zu agieren, das heißt möglichst individuelle Problemlösungen für Kunden herbeizuführen. Das Interesse der Produktion dagegen ist, (aus Kostengründen) zu standardisieren. Individualisieren oder standardisieren: beides ist gleichzeitig nicht zu verwirklichen, also haben Produktion und Verkauf ihre Interessen divergenz ständig zu balancieren.“ Krainz kennt aus der Praxis genügend Beispiele, welche fatalen Folgen ein Missglücken dieses Interessenausgleichs haben kann: „Wenn dies nicht gelingt, entwickeln sich die typischen Ressentiments gegeneinander. Die Produktion erscheint dem Verkauf rigid, normversessen und unflexibel. Der Verkauf erscheint der Produktion dagegen verantwortungslos, denn er macht Versprechungen, die nicht einzuhalten sind.“
Der Organisationsanalytiker Krainz legt daher allen, die in einem solchen Spannungsfeld tagtäglich agieren müssen, die Erkenntnis nahe, dass es hierbei nicht um flüchtige Widersprüche zwischen Personen oder Gruppen gehe, sondern dass sie es mit „strukturellen Konflikten“ zu tun haben: „Was hier am Beispiel des Verhältnisses von Produktion und Verkauf ausgeführt wurde, gilt für alle Funktionsbereiche einer Firma: Der Einkauf folgt einer eigenen Logik; Forschung und Entwicklung ebenfalls. Und an den Stellen, an denen die unterschiedlichen Funktionalitäten koordiniert werden sollen, inszenieren sich fast unvermeidlich die Konfl ikte, ausgetragen von Vertretern der funktionalen Subsysteme in Managementbesprechungen.“
Nun: Diese Inszenierungen als systembedingt zu erkennen, ist von großem Wert für einen produktiven Umgang mit den einhergehenden Konflikten. Dennoch ist für die Akteure damit noch keineswegs garantiert, dass sie aus dieser gewonnenen Einsicht heraus auch unbefangen miteinander umgehen können. Der renommierte Philosoph und wissenschaftliche Leiter des Ausbildungsprojekts European General Mediator, Peter Heintel, bringt dies lakonisch auf den Punkt: „Es sind verschiedene Denk- und Handlungswelten, die sich zwar theoretisch, selten aber emotional verstehen. Das Koordinationsproblem wird spätestens dann relevant, wenn man in einer Projektorganisation alle Bereiche zu vereinigen sucht.“ Und gerade dieses seit geraumer Zeit auf allen Business- Ebenen zur Mode gewordene Faible für „übergreifende Projekte“ aller Art zwingt uns endgültig, das konstruktive Sinnpotenzial von Konflikten zu erkennen, wollen wir nicht in einem Hickhack versinken, in dem jeder gegen jeden agiert. Worin besteht nun der konstruktive Sinn von probat ausgetragenen Konflikten?
Eine Sinnhaftigkeit besteht seit jeher darin, vorhandene Unterschiede zu verdeutlichen, betont der eingangs erwähnte Experte Gerhard Schwarz in seinem Standardwerk „Konfliktmanagement. Konflikte erkennen, analysieren, lösen“. Denn damit werden einige Grundfragen unserer (beruflichen wie privaten) Existenz geklärt: Wie unterscheide ich mich von den anderen? Wer ist wofür zuständig? Wer ist stärker? Wer ist besser? Arbeitsteilung und Konkurrenz entstehen und verbessern die Arbeitsleistung quantitativ wie qualitativ. Zugleich erlaubt die rechtzeitige, offenherzige Austragung diverser Meinungen in einem Unternehmen, dass dieses auch mit erhöhter Wahrscheinlichkeit marktgerecht entscheidet und handelt, betont Schwarz: „Eine sinnvolle Entscheidung ist erst dann möglich, wenn alle unterschiedlichen Aspekte und Dimensionen eines Problems auch tatsächlich ausgesprochen sind, sozusagen auf dem Tisch liegen. Fehlen wichtige Aspekte, dann hat die Entscheidung nicht genug Realitätsbezogenheit.“

Einheit und Unterschied
Selbstherrliche ebenso wie harmonisierende Führungskräfte schaden mit dem Unterdrücken jedweder produktiven Konfliktkultur daher über kurz oder lang dem Unternehmen, so Schwarz: „Das Wesentliche im Umgang mit Widersprüchen liegt darin, sie rechtzeitig zur Sprache zu bringen und austragen zu lassen. Werden sie in den ersten Entscheidungsinstanzen vermieden, weil Unterschiede nicht zugelassen werden, dann treten sie für das Unternehmen im Kontakt mit den Kunden wieder zu Tage. Konflikte, die auf Unterschiede aufbauen, garantieren damit auch so etwas wie den Realitätsbezug von Personen und Organisationen.“
Aber nach Schwarz erkennt man die Sinnhaftigkeit von Konflikten nur dann richtig, wenn man die inhärente Dialektik der Sache versteht: „Konflikte sind auch dazu da, die Unterschiede zu überwinden und die Einheit der Gruppe herzustellen. Das geschieht im Allgemeinen dadurch, dass Gruppenmitglieder, die eine von der Gruppe abweichende Meinung äußern, unter sehr starken Druck geraten, unter Umständen sogar negativ sanktioniert werden. Außenseiter lösen Konflikte aus und können mit Hilfe der Konfliktbearbeitung wieder in die Gruppe integriert werden. Sogar die so negativ besetzten Haltungen wie Neid und Eifersucht kann man unter diesem Aspekt positiv interpretieren. Die damit verbundenen Konflikte sorgen nämlich dafür, dass die auftretenden Unterschiede im Verhalten der Gruppe besprochen und bearbeitet werden.“ Einen merkwürdigen, sogar paradox wirkenden Effekt skizziert Schwarz in diesem Kontext: „Auch wer überdurchschnittlich gut ist, gefährdet den Erfolg einer Gruppe, weil er die Einheit der Gruppe in Frage stellt. Neid, Eifersucht oder Mitleid gegenüber Überoder Unterdurchschnittlichkeit bremsen den Guten und spornen den Schwachen zu steigender Leistung an: Jetzt muss ich euch einmal zeigen, dass ich das kann. In diesem Sinne ist die Einheit der Gruppe durch Konflikte wiederhergestellt.“
Erst wenn man diese beiden vitalen Sinnaspekte eines Konfliktes richtig zu erkennen versteht, erst wenn man realisiert, dass beide Seiten des Widerspruches untrennbar zusammengehören, erst dann erschließt sich ein produktives Umgehen mit den latenten und offenen Konfliktpotenzialen im Unternehmen. Was heißt: In der einen Phase wird es nötig sein, die internen Unterschiede, die interne Konkurrenz zu fördern, etwa um eine optimale Lösung zu finden oder um den Leistungsstandard zu heben. Jedwede Scheinharmonie wirkt sich in dieser Phase hingegen kontraproduktiv aus.
In einer anderen Phase wiederum gilt es, die Reihen zu schließen, die Einheit der Belegschaft herzustellen, damit wirkungsvoll umgesetzt werden kann, was zuvor ergiebig diskutiert und danach beschlossen wurde. Diese Entscheidung durch ein nicht enden wollendes Weiterdiskutieren in Frage zu stellen, wird in dieser Phase dem Unternehmen – und damit der gesamten Belegschaft – wohl wenig bringen. „Sinnvoll scheint mir, dass beide Prinzipien gut ausbalanciert werden. Oft ist es notwendig, zu verschiedenen Zeiten Schwerpunkte in dieser gegensätzlichen Bedeutung von Konflikten zu setzen“, so das Resümee des Konflikt-Experten. So einfach und logisch schlüssig die Konfliktmodelle der Gruppendynamiker Schwarz, Krainz oder Heintel auch erscheinen mögen: Die Experten lassen keinen Zweifel daran, dass die Wirklichkeit von ganz anderen, großteils archaischen Grundmustern der Konfliktbewältigung geprägt sind. Diese reichen von den menschheitsgeschichtlich wohl ältesten Verhaltensweisen wie der Konfliktvermeidung durch eine ansatzlose Flucht über eine radikale Variante, die konsequente Vernichtung des Gegners, bis zur nächsten Stufe der Unterwerfung und Unterordnung unter den Stärkeren, Mächtigeren. Erst mit der vierten Stufe der Konfliktbearbeitung, der Delegation an eine dritte Instanz, die den Lösungsprozess unbefangen und weise begleitet, beginnt ein fruchtbarer, weil zivilisierter Umgang mit Konflikten möglich zu werden. Und erst dadurch wurde der Weg freigelegt für die nächsten, auch aktuell noch allzu selten realisierbaren Stufen, einen akzeptablen Kompromiss oder sogar einen für alle Beteiligten befriedigenden Konsens. Also eine jener Winwin- Lösungen, die sich im Portfolio geschäftstüchtiger Berater so attraktiv ausmachen.

Letzter Ausweg: Angriff
Die Wirklichkeit ist eine andere, nämlich Konfliktlösung durch Eskalation. Dieser hilflose wie paradox anmutende Prozess führt Stufe um Stufe hinunter, bis hin zum Zustand der archaischen Barbarei. Kann der Gegner auf dem Markt nicht aufgekauft (unterworfen) werden, versucht man seinen Marktanteil systematisch abzugraben (zu vernichten). Und nützt alles nix, bleibt nur mehr die Flucht in andere, erfolgsträchtigere Geschäftsfelder. Analog dazu ließe sich auch die Konfliktbewältigung in den Firmen darstellen: Lässt sich der Konflikt nicht hierarchisch (durch Subordination) lösen, neigt so mancher Manager zur Beseitigung (durch Entlassung oder wenigstens Versetzung) des Kontrahenten. Oder dieser verlässt freiwillig das Unternehmen. Das bedeutet: Aktuelles Konfliktmanagement gelingt meist nur dann, wenn die Beteiligten sich entschließen, einander auf einer der zivilisierteren Stufen der Konfliktlösung zu begegnen. Oder in diesem Prozess dereinst vielleicht sogar lernen, die Widersprüche in einem Konflikt auszubalancieren – und deren produktive Energie damit zu nutzen.

Ausgewählter Artikel aus dem Jahr 2006

Jakob Steuerer, Economy Ausgabe 999999, 10.04.2015