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29. März 2024

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Weniger arbeiten, mehr leisten

Weniger arbeiten, mehr leisten© Bilderbox.com

Hochleistungswirtschaft und Freizeitgesellschaft scheinen einander auf den ersten Blick auszuschließen. Intelligente Arbeitszeitmodelle könnten aber der Freizeit ihren Ruf der Produktivitätsbremse nehmen.

Frankreichs konservativer ehemaliger Staatspräsident Nicolas Sarkozy hat einst eine Mahnung ausgesprochen, die bei den Gewerkschaften im Lande gar nicht gut ankam: Seine Landsleute soll- ten doch bitte mehr arbeiten, meinte Sarkozy in Anspielung auf die in den 1990er-Jahren beschlossene 35-Stunden-Woche, die seiner Ansicht nach eine „ökonomische Katastrophe“ für Frankreich sei. Das Land laufe Gefahr, seine Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.
In der Tat ist Frankreich in dieser Hinsicht eine Art Schlaraffenland: Es liegt nämlich auch sowohl bei den arbeits- freien Feiertagen pro Jahr (elf Tage) und dem Jahresurlaubs- anspruch (25 Tage) in Europa mit einer Gesamtanzahl von 36 freien Tagen in der vordersten Liga, nur getoppt von Finnland, Österreich und Griechenland.
Beim Rekordhalter Finnland summieren sich Feiertage und Urlaubsanspruch auf 39 Tage im Jahr, in Österreich sind es 38 und in Griechenland 37. Am meisten gearbeitet wird in Irland (29 Tage) sowie in den Niederlanden und Großbritannien (jeweils 28 Tage).
Ist Sarkozys Diktum richtig, dass die Zahl der Arbeitstage und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes einen Zusammenhang bilden? „Es gibt immer noch eine erhebliche Lücke in
der Anzahl der bezahlten Urlaubstage zwischen den EU- Mitgliedsstaaten, obwohl es Anstrengungen gegeben hat, die Beschäftigungsmethoden in Europa anzugleichen“, sagt David Formosa, Berater bei Mercer Human Resource Consulting, der eine Studie über die freien Tage für Arbeiter und Angestellte in Europa durchgeführt hat. „Die Unmenge verschiedener Feiertage – in der EU wer- den ungefähr 50 verschiedene Tage als gesetzliche Feiertage angegeben – kann zur Belastung bei der Koordination von Geschäftstätigkeiten in Europa führen“, sagt Formosa. Doch es gebe mittlerweile durchaus Druck zu einer europaweiten Angleichung.

Flexibilität und Produktivität
Jörg Wiedemuth von der deutschen Gewerkschaft Verdi hält den Zusammenhang von Produktivität und Arbeitszeit allerdings für eine „Milchmädchenrechnung“: „Es gibt keinen empirischen Beweis, dass längere Arbeitszeiten zu weniger Arbeitslosigkeit führen“, stellt Wiedemuth fest. Auch liegen die Lohnstückkosten in Ländern mit längerer Arbeitszeit wie etwa Großbritannien oder den Benelux-Staaten über jenen mit weniger Arbeitstagen, da sich erwiesen hat, dass längere Arbeitszeit nicht automatisch einer Produktivitätssteigerung entspricht. Zu den heftigsten Krikern einer Arbeitszeitverlängerung in Österreich zählt der Sozialforscher Bernd Marin mit seinem Argument, dass nicht mehr, sondern weniger Arbeit mehr Wohlstand schaffe. Arbeitszeitverlängerung und Ab- schaffung von Feiertagen sind für ihn „Unfug“: Auf den individuellen Arbeitnehmer bezo- gen bedeute längeres Arbeiten eine steigende Lebensarbeitszeit und damit weniger bezahlte Fehlzeiten, Krankenstände und Erholungszeiten, was sich wie- derum auf die Produktivität – vor allem bei älteren Arbeitnehmern – auswirke.
Verlängerte Arbeitszeiten sind laut Marin „Steinzeitliberalismus“, die Abschaffung von Feiertagen schlicht ein „Groschengeschäft“. Viel zielführender wäre es, wenn sich Arbeitgeber und -nehmer auf ein sogenanntes „Jahresarbeitszeitmodell“ einigen, in dessen Rahmen sich der Arbeitnehmer seine produktive Zeit selbst ein- teilen könne. Auch die Erweiterung der Teilzeitarbeitsformen sei im Hinblick auf neue Lebensmodelle in der Gesellschaft anzustreben, meint Marin. Das würde zum Beispiel „gut ausgebildeten“ Frauen, die ansonsten zu Hause bei den Kindern „versauern“ müssten, die Teilnahme am Berufsleben ermöglichen.
Arbeitszeit, das sei auch Lebenszeit, schließt Marin. Da die Lebenserwartung allgemein steige und die Lebenszyklen sich geändert hätten, sei die Diskussion um eine sinnvolle Verteilung der Arbeitszeit in der Lebenszeit dringend zu führen, fordert der Sozialforscher. Dabei seien auch die Antworten auf das Leben in „Hochleistungswirtschaften“ und ihre „Hyperproduktivität“ an sich zu suchen, die ja zu Paradoxien in der modernen Leistungsgesellschaft geführt hätten: dass es nämlich zu Arbeitslosigkeit in Hochbeschäftigungszeiten und zu Stress und Zeitnot in der Freizeitgesellschaft komme.

Wertewandel gefordert
Eine Jahresarbeitszeit-Flexibilisierung müsse auch dem „durchaus beunruhigenden Wertewandel von Arbeits-, Berufs- und Leistungsorientierung hin zu Privatleben, Freizeit und Spaßkultur“ gegensteuern, ortet Marin. Die Vorschläge, die der Sozialforscher bei einer Tagung der Industriellenvereinigung Ende April in Wien auf den Tisch legte, sind zwar aus heutiger Sicht radikal, doch sie
berücksichtigen die Erfordernisse der Arbeitsgesellschaft. Da Österreich in die „Freizeitgesellschaft“ taumle, müsse Arbeitsentgelt von der Arbeitszeit abgekoppelt werden, was nur mit flexiblen Zeitmodellen gelinge. Marin fordert zwar mehr Ruhezeiten, aber weniger Leer- lauf- und Stillstandszeiten. Er meint, dass sich längere Betriebszeiten und mehr Freizeit für den Einzelnen mit intelligenten Zeitmodellen durchaus machen lassen würden.
Dies würde sowohl der Freizeitgesellschaft durch längere Öffnungs- und Betriebszeiten vor allem in der Dienstleistungsbranche entgegenkommen, dem einzelnen Arbeitnehmer aber mehr Zeitautonomie und mehr Wahlmöglichkeiten überlassen und das paradoxe Phänomen des „Freizeitstresses“ verringern. Letztlich würde ein flexibles Jahresarbeitszeitmodell auch der Work-Life-Balance und der Vereinbarkeit von Beruf und Familie entgegenkommen.

Arno Maierbrugger, Economy Ausgabe 60-07-2010, 08.08.2017