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29. März 2024

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Fernpendeln als Normalität

Fernpendeln als NormalitätUniWien_Saxinger

Arbeitsleben auf Schicht, weit weg von Zuhause, wird meist als problematisch empfunden und auch so dargestellt. Das interdisziplinäre Projekt des Wissenschaftsfonds FWF "Lives on the Move" beleuchtet am Beispiel der russischen Petroleumindustrie die komplexen Verflechtungen von Fernpendeln und Leben zwischen Extremen.

Die Abbaugebiete von Erdöl und Erdgas verlagern sich zusehends in den arktischen Norden. Aktuell liegen dort etwa 20 Prozent der weltweiten Erdgas- und Erdölreserven und immense Lagerstätten anderer Mineralien.
Daraus resultierend, nehmen immer mehr Beschäftigte in der Petroleumindustrie sehr lange Wege auf sich, um unter extremen klimatischen Bedingungen auf den abgelegenen Förderstätten zu arbeiten. Auch die Zahl der Frauen in der Rohstoffindustrie steigt, sie arbeiten vor Ort als Ingenieurinnen oder in verwandten Dienstleistungsbereichen.

Auswirkungen von Wanderbewegungen
In einem fünf-jährigen FWF-Projekt unter der Leitung von Migrationsforscher Heinz Faßmann, beleuchtete das Team der Anthropologinnen Gertrude Saxinger und Elisabeth Öfner sowie der Geographin Elena Nuykina die komplexen Verflechtungen dieser spezifischen Personalbereitstellungsmethode. Die Bandbreite erstreckt sich dabei vom Individuum bis auf die Ebene von Regional- und Stadtentwicklung.
Am Beispiel der zentralrussischen Republik Baschkortostan gingen die österreichischen Forscher der Frage nach, welche Auswirkungen solche Wanderbewegungen auf die sozio-ökonomisch eher schwachen Herkunftsregionen der Erdöl- und Erdgasarbeiter haben und gewann dabei auch Einsicht in politische und ökonomische Dynamiken des heutigen Russland.

Mobiles Leben als Normalität
Auf zahlreichen Zugreisen zwischen Moskau und Novy Urengoy legte Saxinger in den vergangenen Jahren mehr als 25.000 Kilometer gemeinsam mit den Pendlern zurückgelegt. Ihr Interesse galt dabei der Frage, wie mobiles Leben unter extremen Bedingungen funktioniert und wie die Arbeitskräfte selbst ihr Leben zwischen zwei oder mehreren Welten wahrnehmen.
Fernpendeln nimmt international rapide zu, da es billiger ist, Menschen zum Arbeitsort hin- und wieder wegzubringen, als Siedlungen in neuen Abbaugebieten zu bauen. Die Projekt-Ergebnisse zeigen, dass sich das Leben von Fernpendlern nicht zwangsläufig negativ auf ihr soziales Leben und Umfeld auswirkt und die Menschen auch unter schwierigen Bedingungen Normalität in ihrem mobilen Leben herstellen können.

Lebensformen prägen Persönlichkeiten
Mehr als die Mobilität an sich stellt sich das Thema Multilokalität als problematisch für die Arbeitskräfte heraus. Sinnstiftende Aktivitäten und soziale Umfelder sowohl zu Hause als auch auf Schicht zu schaffen, bedarf einer starken Reflexion und der bewussten Entscheidung für diese Lebensform und diese prägt wiederum das Individuum und seine Persönlichkeit.
"Für manche ist es sicherlich Abenteuer, aber für die Mehrheit ist es das Gefühl, im Leben etwas zu erreichen und sozial fortzukommen,“ beschreibt Saxinger den flexiblen Umgang vieler Angestellter mit den herausfordernden Bedingungen.

Arbeitsbedingungen und Personalpolitik
Die Zufriedenheit mit dem Leben auf Achse hängt auch maßgeblich von den Arbeitsbedingungen ab, welche bei großen Firmen wie Gazprom oder Rosneft durch Kollektivverträge und Betriebsvereinbarungen geregelt ist. Grundsätzlich ist die Zufriedenheit der Beschäftigten groß.
Der Bereich des Anlagen- und Infrastrukturbaus ist jedoch oft an Generalunternehmer und verzweigte Subunternehmen ausgelagert, wo gesetzliche Vorschriften oft nur unzulänglich existieren. "Russische Forschungen in diesem Bereich sind zwar rar und wenn, dann werden diese von dortigen Kollegen über Finanzierung der Gewerkschaften durchgeführt,“ so Saxinger.

Einbindung in internationale Forschungsnetzwerke
Als Ergebnis einer zudem vom Projektteam 2013 organisierten internationalen Konferenz zeigte sich, dass Fernpendeln in sämtlichen Regionen der Welt stattfindet. "Internationale wissenschaftliche Netzwerke sind zentral und durch dieses Projekt sind wir da nun auch eingebunden. Aber auch Kooperationen mit Firmen zu Themen wie Weiterentwicklung des Fernpendelns als ein System der Arbeitskräftebereitstellung sind von Bedeutung", betont Saxinger.
Das interdisziplinäre FWF-Projekt "Lives on the Move" wurde unter der Leitung von Professor Heinz Faßmann am Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien und am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften von 2010 bis 2015 durchgeführt.

Links

red/czaak, Economy Ausgabe 999999, 22.05.2015