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25. April 2024

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Mythos freier Markt

Mythos freier MarktAndy Urban

Der globalisierte Neoliberalismus erweist sich immer mehr als eine neue Form des altbekannten räuberischen Kolonialismus, der nun aber die gesamte Welt in Waren transformiert und dabei zerstört.

Der Neoliberalismus als Wirtschaftspolitik begann 1973 in Chile. Für seine Einführung durch die US-Regierung wurde ein Putsch gegen den demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende orga­nisiert und eine blutige Militärdiktatur etabliert. Nur so konnte das neoliberale Wirtschaftsmodell der sogenannten „Chicago Boys“ unter Milton Friedman in der Praxis durchgesetzt werden. Dieses Modell, das von einem freien Markt ohne große staatliche Eingriffe ausgeht, orientiert sich am Wirtschaftsliberalismus und der Freihandelsidee des 18. und 19. Jahrhunderts.
Die radikale „freie Marktwirtschaft“ geht davon aus, dass freie Märkte zu einem veritablen Wirtschaftswachstum führen. Doch die Praxis strafte die Theorie rasch Lügen: In der Periode bis zum Ende des Pinochet-Regimes 1990 lag das durchschnittliche Bruttosozialprodukt deutlich niedriger als in der Zeit vor 1973, als der Staat noch eine gewichtige Rolle in der chilenischen Wirtschaft eingenommen hatte. Auch wuchsen die soziale Ungleichheit und Armut signifikant. Ironie der Geschichte: 1976 erhielt Milton Friedman den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Theorie des Geldes.

Untaugliche Theorie
Doch Chile war nur ein Probelauf. Anfang der 1980er Jahre brachten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank mit ihren sogenannten „Strukturanpassungsprogrammen“ das Paradigma des freien Marktes in die Länder des Südens – der Beginn der Globalisierung des Neoliberalismus.
Unter Ronald Reagan und Margaret Thatcher wurde dann der Neoliberalismus in Anglo-Amerika eingeführt. 1989 wurde der sogenannte „Washington Consensus“ formuliert, der mit „Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung“ weltweit zu allgemeiner Freiheit, allgemein steigendem Wohlstand und ebensolchem Wachstum zu führen behauptete.

Frei von Verantwortung
Dies wurde zum Credo aller Neoliberalen, zu ihrer Rechtfertigung und zu ihrem Versprechen. Inzwischen wissen wir, dass es nur für die Konzerne Wirklichkeit geworden ist, während alle anderen dafür aufkommen mussten. Diese Entwicklung kam scheinbar wie ein unabwendbares Naturgesetz über die Welt. „Es gibt keine Alternative“, so lautete die Parole, die die Eiserne Lady Thatcher damals ausgab – peinlich genug für die Frauen, wenn ausgerechnet eine Frau an der Macht die Politik der Erbarmungslosigkeit anführt. Denn worum geht es im Neoliberalismus?
Im Mittelpunkt des alten und neuen Wirtschaftsliberalismus stehen nach wie vor Eigennutz und Individualismus; Konkurrenz ist die wichtigste Triebkraft für Wachstum und Fortschritt. Ethische Prinzipien spielen im Wirtschaftsgeschehen keine Rolle, vielmehr wird die Wirtschaft als von der Gesellschaft losgelöst betrachtet. Das Prinzip nationaler Selbstversorgung wird durch profitablen Außenhandel ersetzt. Und über all dem steht die Maxime, dass es keine Kontrolle des Marktes durch die öffentliche Hand geben soll.
Neu ist allerdings, dass all dies nun für sämtliche Beteiligte und Bereiche des Wirtschaftens, ja der gesamten Gesellschaft, und zwar in aller Welt gelten soll. Neu ist, dass die Wirtschaft, worunter letztlich nur mehr die Konzerne verstanden werden, „frei“ sein müsse, also frei von jeder Verantwortung und frei von jeder Leistung für die Gesellschaft. Neu ist, dass das rationale Kosten-Nutzen-Kalkül mit dem Ziel der Profitmaximierung nun auch für den öffentlichen Sektor gelten soll. Neu ist, dass die Profitmaximierung in kürzester Zeit – spekulations- und shareholdervalueorientiert – und deswegen möglichst grenzenlos und globalisiert erfolgen soll, da sich Konzerne als keiner Nation zugehörig verstehen.
Und wozu hat all das geführt? Zu einer totalen, alle Rücksichtnahme ausschließenden Konkurrenz um die globalen Ressourcen und Investitions-, sprich: Kapitalverwertungsmöglichkeiten.
Längst ist die von Adam Smith, dem Autor des ökonomischen Liberalismus des 18. Jahrhunderts, sogenannte „unsichtbare Hand“, die den Wirtschaftsprozess angeblich zum allgemeinen Wohl steuere, zur sichtbaren Faust geworden. Anstatt der angeblichen „Freiheit des Marktes“ und der dadurch gegebenen demokratischen „vollständigen Konkurrenz“ vieler kleiner Anbieter setzen sich nun die bereits vorhandenen großen Unternehmen durch, es entstehen neue Oligopole und Monopole von bisher unbekannter Größe auf dem Markt.
Der Markt ist damit nur noch frei für die Großen, heute die transnationalen Konzerne, und für alle anderen „unfrei“. Das Kartellrecht greift nicht mehr, weil als Norm nun die Transnationalen gelten. Die Konzerne – und nicht „der Markt“ als ano-nymer Mechanismus – bestimmen nach und nach sämtliche Spielregeln und geraten außer politische Kontrolle. Das Spekulantentum mit überdurchschnittlich hohen Profitraten setzt sich gegen seriöse Produzenten durch, die im Vergleich „unrentabel“ werden.

Totale Liquidierung
Was sind nun aber die konkreten Auswirkungen dieser „neoliberalen“ Entwicklungen? Der öffentliche Sektor wurde historisch absichtlich als Bereich einer nicht profitorientierten Wirtschaft und Verwaltung installiert. Nun wird er umgestaltet und in seine „lohnenden“ Bestandteile aufgeteilt. Diese „Gustostücke“ werden von Konzernen übernommen, während die nicht gewinnversprechenden Anteile, um die es ursprünglich ging, reduziert werden. Dadurch gehen zusehends immer mehr Sozialleistungen verloren.
Neue Formen des Privateigentums entstehen, zum Beispiel durch den erwähnten „Ausverkauf“ öffentlichen Eigentums und durch die Transformation ehemals öffentlicher Dienstleistungen und Produktionen in solche, die dann durch Konzerne angeboten werden können. Das geschieht gerade auch in Bereichen, die vom Profitmotiv bisher zum Teil bewusst ausgenommen waren: etwa Bildung, Gesundheit, Energie oder Wasserver- und -entsorgung. Auch neue Formen der Inbesitznahme ehemals öffentlicher, noch in Gemeinbesitz befindlicher oder noch gar nicht ökonomisch genutzter Gebiete sind hier dazuzurechnen: zum Beispiel Meere, Regenwälder und Gegenden, die viele Bodenschätze oder eine reiche genetische Vielfalt aufweisen.
Dieses neue Privateigentum kommt erheblich durch mehr oder weniger räuberische Formen der Aneignung zustande, stellt also eine Neuauflage und Fortsetzung des historischen Prozesses der sogenannten „ursprünglichen Akkumulation“ dar, die jetzt weltweit Konjunktur hat: Wachstum durch Enteignung! Hier zeigt sich, dass der Neoliberalismus nicht das Ende des Kolonialismus, sondern ganz im Gegenteil auch die Kolonisierung des Nordens bedeutet. Diese neue Kolonisierung der Welt verweist zurück auf die Anfänge des modernen Weltsystems im 16. Jahrhundert, als die Eroberung Amerikas, seine Ausplünderung und koloniale Umgestaltung den Aufstieg und die „Entwicklung“ Europas erst ermöglichten.
Soziale, kulturelle, traditio-nelle und ökologische Rücksichtnahme wird abgeschafft und macht einer neuen Plünderungsmentalität Platz. Alle weltweit noch vorhandenen Naturressourcen – Bodenschätze, Wälder, Wasser, Gen-Pools – geraten ins Visier der „Verwertung“. Wer mehr Gewinn dadurch macht, dass er Bäume fällt anstatt pflanzt, lässt sich heute nicht daran hindern, sie zu fällen. Tendenziell wird nun alles, was auf der Erde existiert, in „Waren“ verwandelt. Alles wird zum Objekt des „Handels“ und der Kommerzialisierung, also eigentlich der „Liquidierung“, der Verwandlung in liquide Geldmittel, gemacht.
Das ist der Nihilismus dieser Wirtschaftsweise. Die ganze Welt wird in Geld verwandelt und ist dann sozusagen weg. Was also nicht berücksichtigt wird, ist die Unmöglichkeit, die Ware-Geld-Kapital-Maschinerie in Natur beziehungsweise konkreten Reichtum zurückzuverwandeln. Die Fülle der Materie von „Mutter Erde“ ist nämlich dabei, einer unfruchtbar gemachten Öde zu weichen, welche die meisten nicht se­hen können, solange ihnen der „Fortschritt“ mit seinem angeblich „besseren“ Ersatz den Blick verstellt. Die letzte Stufe des Patriarchats, der Kapitalismus, ist „sinn-los“ und am Ende auch das Sein los: Kaputtalismus.
Dass Kapitalismus und Demokratie angesichts des nun herrschenden „monetären Totalitarismus“ typischerweise zueinander gehören, entpuppt sich im Neoliberalismus als Mythos schlechthin. Der Primat der Politik vor der Wirtschaft ist verloren gegangen. Die Politiker und Politikerinnen aller Parteien an der Macht haben ihn selbst abgeschafft. Konzerne diktieren die Politik. Demokratische Regeln gelten nicht mehr, wenn es um Konzerninteressen geht. Das Volk als Souverän ist praktisch abgesetzt. Es hat eine Art „Putsch“ stattgefunden.

Ende der Rechtfertigung
Wie kann diese Politik, die heute von der WTO (World Trade Organisation), den USA und der EU weltweit durchgesetzt wird, den Menschen so erklärt werden, dass sie ihr zustimmen? Gar nicht, natürlich. Daher wird das auch nicht getan. Im Neoliberalismus findet die Ideologie ihr Ende. Denn er ist ein bewusster Betrug an den Interessen von 99 Prozent der Menschen auf diesem Globus, er legalisiert direkt Raub und Plünderung überall. Er ist der Intention ebenso wie der Wirkung nach ein wahres Massenvernichtungsmittel auch ohne direkte Kriegshandlungen. Wie viele Menschenleben wurden dem Neoliberalismus schon geopfert? Der Soziologe und Politiker Jean Ziegler schätzt, dass sie bereits in die Hunderte von Millionen gehen.
Das einzig Gute am Neoliberalismus ist: Er präsentiert uns ungeschminkt und absolut radikal die Wahrheit über die westliche „Zivilisation“. Er stellt eine Apokalypse, eine „Enthüllung“ dar, zeigt uns täglich, was wirklich der Fall ist. Deshalb kann er angesichts der von ihm selbst produzierten Realität auch gar nicht mehr gerechtfertigt werden. Das ist der Grund, warum die Betreiber dieser Politik, wenn sie zu offensichtlich wird, einfach lügen. Jede Möglichkeit der Rechtfertigung verschwindet, weil jede Zweideutigkeit verschwunden ist. Da hilft auch der Versuch nichts, die Konzerne als „Spieler“ zu bezeichnen. Das kann nicht verschleiern, dass es bitter ernst ist und kein Mensch bei diesem Spiel mehr Witze macht.
Noch klarer kann es nicht werden. Daher haben die Menschen auch die Chance, die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Es braucht nichts Geringeres als eine andere Zivilisation – nicht bloß eine andere Ökonomie, Gesellschaft oder Kultur. Und diese Zivilisation kann nur im größtmöglichen Gegensatz zum Neoliberalismus bestehen.
Claudia von Werlhof ist Professorin am Institut für Politikwissenschaften der Universität Innsbruck.

Claudia von Werlhof, Economy Ausgabe 74-06-2009, 26.06.2009