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19. April 2024

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Echte Innovation: Sonderschulfreie Zone

Echte Innovation: Sonderschulfreie ZoneAPA/OOEN/Weihbold

Ein Vater und ein Lehrer sorgen in Reutte mit einem integrativen Schulexperiment für eine Revolution. Heute besuchen dort alle Kinder, mit und ohne Behinderung, die Regelschule. Niemand wird mehr ausgesondert.

Seit fast 30 Jahren führt der Tiroler Heinz Forcher, ein ehemaliger Hotelier in Weißenbach bei Reutte, einen Kampf für eine Alternative zum Aussondern und Abschieben von Kindern mit Behinderung in Heime, Werkstätten und Sonderschulen. An die Zweifel nach dem Unglück erinnert er sich noch ganz genau. Der damals sieben Monate alte Ernst hatte sich in seinem Bettzeug eingewickelt, keine Luft bekommen, Schädigungen des Gehirns durch Unterversorgung mit Sauerstoff und – in Folge – spastische Lähmungen an allen Gliedmaßen davongetragen. Zunächst vertraute Forcher Ärzten und Therapeuten, die das Kind in das hundert Kilometer entfernte Heim stecken wollten. Als Ernst nach dem zweiten Wochenende während der ganzen Autofahrt zurück ins Heim immer nur sagte: „Papa, mi’ hol’n“ und er im Heim furchtbar zu schreien anfing, dachte Forcher um.
Gemeinsam mit 80 Leuten gründete er den Verein Vianova (neuer Weg), eine Selbsthilfegruppe von Familien mit behinderten Kindern. Kurz zuvor war im Burgenland, gegen den erbitterten Widerstand von Lehrern und Behörden, die erste Schulklasse in Österreich eingerichtet worden, in der Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam unterrichtet wurden. Da die Schulbehörde ihnen einen Klassenraum verweigerte, musste der Unterricht anfangs in einem Zelt stattfinden. Für Forcher war diese erste Integrationsklasse dennoch das Signal. „Das wollten wir hier in Reutte auch.“
Forcher und seine Mitstreiter von Vianova hatten immerhin die Wissenschaft auf ihrer Seite. Sämtliche Untersuchungen integrativer Schulversuche dokumentierten deutliche Lern- und Entwicklungsfortschritte, auch bei schwerstbehinderten Kindern. Sonderschülern dagegen wurde ein viel langsameres Vorankommen attestiert, manche verdummten regelrecht; ihr Intelligenzquotient sank. Einige verlernten sogar das Sprechen.
Heute ist für Erziehungswissenschaftler die Überlegenheit der schulischen Integra­tion Allgemeingut. „Das Lernen durch Beobachten, Miterleben und Nachvollziehen hat gerade für Kinder mit beeinträchtigten Entwicklungsverläufen
einen hohen Stellenwert“, urteilt der Berliner Integrationspädagoge Hans Eberwein. Sein Fazit: „Nach 120 Jahren stehen eigenständige Sonderschulen grundsätzlich zur Disposition.“
Im Reutte der 1980er Jahre interessierten sich Politiker, Schulbürokraten und Lehrer nicht für die Forschungsergebnisse an den Hochschulen. „Akzeptieren Sie doch endlich, dass schwerstbehinderte Kinder nicht in die Volksschule gehören“, versuchte man Forcher abzuwimmeln. „Wenn mein Sohn diese Schulklasse nicht besuchen kann“, forderte er ultimativ, „trete ich in Hungerstreik.“ Um sein Hotel kümmerte er sich kaum noch; er gab es schließlich auf.

Weg mit Sonderschule
Ernst Forcher, heute 29 Jahre alt, wurde 1985 das erste Integrationskind im Bezirk Reutte und besuchte fortan die Volksschule in Weißenbach. Sein Vater glaubt, „dass Lehrer und Behörden letztlich nachgegeben haben, weil es sonst ihrem Ruf geschadet hätte. Ich habe ja keine Ruhe gegeben.“ Ausgerechnet Norbert Syrow, der Direktor der Sonderschule in Reutte, wurde Forchers engster Verbündeter. Syrow begann sich Gedanken über einen gemeinsamen kindgerechten Unterricht für alle Schüler, mit und ohne Behinderung, zu machen, in einer Schule, die kein Kind als „nicht integrierbar“ zurücklässt. Und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass es vor allem seine Sonderschule war, die diesem Ideal im Weg stand.
In den Schulen begann ein Kulturkampf. „Was macht denn das für ein Bild, wenn schwerstbehinderte Kinder in der Schule sind?“, tönte es Forcher und Syrow aus der Lehrerschaft entgegen. Den Eltern erklärte man, ihre Kinder würden mit einem Behinderten in der letzten Bank weniger lernen. „Das mit dem Ernst Forcher war ein Versuch, gut“, hieß es bei Elternversammlungen, „aber jetzt müssen die Behinderten wieder raus, die stören unsere Kinder nur.“
Für Norbert Syrow allerdings gab es kein Zurück mehr. „Ich konnte doch nicht sagen, mit dem Ernst machen wir das und mit den anderen nicht.“ An fast allen Schulen fand er vereinzelte aufgeschlossene Lehrer, die sich der Verweigerungshaltung des Kollegiums entgegenstellten. „Diese Lehrer haben wir zu stärken versucht“, sagt Syrow. „Im Laufe der Jahre, nachdem wir zeigen konnten, dass Integration tatsächlich in der Praxis funktioniert, ist die Stimmung dann allmählich gekippt.“

Sich selbst abgeschafft
Syrow wusste, dass es Sonderschüler geben würde, solange es seine Sonderschule gab. „Eine Sonderschule erzeugt Bedarf – und der wird dann auch gefüllt.“ Genau genommen füllt sie sich selbst. Die Sonderschulen sind hier die erste Anlaufstelle für Eltern behinderter Kinder, die zur Einschulung anstehen. Dass die Sonderschulleiter fast ausnahmslos den Besuch ihrer Schule nahelegen, verwundert kaum. Syrow dagegen arbeitete unbeirrt daran, seine eigene Schule mit damals 60 Schülern abzuschaffen. Seit 1985 nahm er keine neuen Schüler mehr auf. „Wir haben jedes Kind, das zu uns kam, auf der Regelschule untergebracht. Und dass Kinder von dort zu uns abgeschoben wurden, sobald sie Schwierigkeiten bereiteten, kam nicht mehr in Frage.“ Am Ende des Schuljahrs 1996/97 gingen die letzten fünf Kinder ab. Die Sonderschule Reutte war stillgelegt. Seitdem ist der Bezirk Reutte sonderschulfreie Zone.
Zurzeit verteilen sich rund 80 Schüler mit „sonderpädagogischem Förderbedarf“, wie es korrekt heißt, auf 40 Klassen in 25 Volks- und Hauptschulen. Anders als in Deutschland, wo die Hauptschule zur Restschule für die Verlierer der Bildungsselektion verkommt, ist sie in Österreich immer noch die vorherrschende Schulform für das fünfte bis achte Schuljahr.
Zwischenzeitlich hatte sich hier der Wind gedreht. Seit 1993 haben Eltern behinderter Kinder ein gesetzlich garantiertes Wahlrecht zwischen Sonderschule und Regelschule. Die Einschulung auf einer Volks- oder Hauptschule ist kein Gnadenakt der Schulbehörde mehr. Der Integrationsgrad ist regional allerdings sehr unterschiedlich. In der Steiermark und im Burgenland entscheiden sich mehr als 85 Prozent der Eltern für die Integration; in Tirol, wozu auch der Bezirk Reutte gehört, nur 40 Prozent.

Economy Ausgabe 76-09-2009, 25.09.2009