Unabhängiges Magazin für Wirtschaft und Bildung

19. April 2024

Search form

Search form

Du sprechen europäisch?

Du sprechen europäisch?piqs.de/Pedro Ribeiro Simões

Mobilität und Migration fördert Transformation und Übersetzung von Sprachen. Ein Forschungsprojekt des Wissenschaftsfonds FWF beschreibt Übersetzung primär als soziales Phänomen.

Griaß di, bonjour, iyi günler! Europa wird neben anderen Merkmalen auch durch seine Sprachvielfalt geprägt. Diese ist seit jeher Teil der Identität des Kontinents und seiner Bevölkerungsgruppen. Europa befindet sich aber durch Migration und Mobilität in einem Transformationsprozess, vieles was historisch gewachsen ist, wird gegenwärtig neu zusammengesetzt.
Das interdisziplinäre, vom FWF geförderte Forschungsprojekt "Europa als Raum der Übersetzung", untersuchte Sprache und ihre Übersetzungsprozesse vor dem Hintergrund der Gesellschaft im Wandel. Übersetzung definieren die Forscher dabei primär als soziales Phänomen.
"Neben standardisierten Nationalsprachen gibt es eine Vielzahl von Sprachrealitäten. Das können Familiensprachen, Handelssprachen oder auch die immer wichtiger werdenden Sprachen der Migration sein", so Stefan Nowotny, Philosoph und Mitglied des Forschungsteams. "Die Ausdifferenzierung in Familiensprachen und Handelssprachen etwa kennt man in Teilen Afrikas. Durch Migration werden sie etwa auch in den französischen Vorstädten gelebt,“ erläutert Nowotny.

Verwaltete Sprachenvielfalt in EU
In der Europäischen Union werden derzeit 24 Sprachen als Amts- und Arbeitssprachen anerkannt. Wie mit Sprachvielfalt umgegangen wird, „sei indessen immer auch Ausdruck einer Politik und habe zudem juristische Aspekte,“ so Nowotny. So muss etwa jedes Dokument des europäischen Vertragswerks in sämtliche Amtssprachen der EU übersetzt werden, gilt aber, aus Gründen der Rechtsverbindlichkeit, in allen Versionen als Original.
"Das ist zugleich ein Beispiel dafür, dass Übersetzung in ihrer Bedeutung oft vollkommen ausgeblendet wird." Nowotny, der auch in Brüssel gelebt hat, schildert am Beispiel von Belgien und Luxemburg die Auswirkungen unterschiedlicher sprachpolitischer Modelle auf mehrsprachige Gesellschaften.
Während Belgien ein multilinguales Konzept verfolge, das vor allem außerhalb Brüssels jeder Sprachgruppe ihre Einsprachigkeit sichere, wird Luxemburg von sprachlicher Flexibilität geprägt. Printmedien werden mehrheitlich auf Deutsch veröffentlicht, Gesetze auf Französisch, in Alltag und Rundfunk dominiert Luxemburgisch, übrigens keine Amtssprache der EU; hinzu kommt das in Schulen unterrichtete Englisch. – Vielfalt ist und bleibt ein prägendes Charakteristikum Europas. Die Frage der Wissenschafterinnen und Wissenschafter lautet, welchen Nutzen die Gesellschaft daraus zieht.

Sprache als Produkt vieler Einflüsse
Teil des FWF-Forschungsprojekts, das am Europäischen Institut für progressive Kulturpolitik (eipcp) durchgeführt wurde, war eine Serie von Workshops im Pariser Vorort Aubervilliers, in Salzburg und Maribor in Zusammenarbeit mit Partnern vor Ort wie dem Les Laboratoires d'Aubervilliers, dem Stefan Zweig Centre Salzburg und dem Goethe-Institut Ljubljana.
Hier wurden Fragen diskutiert wie: Wie werden in Situationen sprachlicher Differenz soziale Verhältnisse artikuliert? Wer wird wie "angesprochen"? Und welche politischen, ökonomischen und institutionellen Interessen prägen diese Adressierungen, um andererseits auch durch brüchige oder informelle Übersetzungsgemeinschaften infrage gestellt zu werden?
Dabei bildete der Begriff der Heterolingualität, eingeführt von dem japanischen Übersetzungstheoretiker Naoki Sakai, einen zentralen theoretischen Ausgangspunkt für das Projekt. In einer Reihe von Print- und Onlinepublikationen, einer internationalen Konferenz und in den Workshops wurden als Ergebnis des Projekts auch Elemente einer Kartographie Europas als transnationaler Raum erarbeitet.

Übersetzung als Chance
Neben theoretischen Auseinandersetzungen suchten die Wissenschafter auch die Zusammenarbeit mit Experten aus der Praxis, etwa aus dem Bereich der Zweitsprachpädagogik, des Dolmetschens in Asylverfahren oder der Jugendarbeit. Künstlerisches Arbeiten, Film- und Musikprojekte von und mit Jugendlichen wurden dabei verwirklicht und der kreative Umgang mit Sprache in den Mittelpunkt gestellt.
"Wir haben hier Ansätze weiterentwickelt, welche die Notwendigkeiten der Übersetzung nicht von einem Kommunikationsdefizit her begreifen, wie es gerade in Migrationsdebatten meist einseitig verortet wird, sondern Übersetzung als Chance sehen, den Transformationsprozessen gegenwärtiger Gesellschaften gerecht zu werden", erläutert Stefan Nowotny.
Die Forscher sehen das Projekt der europäischen Integration an einem kritischen Punkt und das betrifft auch die Frage der zukünftigen Sprache der europäischen Öffentlichkeit. "Die Antwort kann weder eine einzelne Nationalsprache, noch deren rein mechanische Summe, sprich die Multilingualität, sein", resümiert Nowotny.
Für das Funktionieren einer gemeinsamen Demokratie sei eine entsprechende Öffentlichkeit erforderlich. "Zur Erfüllung ihrer demokratischen Funktionen muss diese auch über eine gemeinsame Sprache verfügen. Doch diese gemeinsame Sprache kann heute nur die der Übersetzung sein,“ so der Forscher abschliessend.

Links

red/cc, Economy Ausgabe 999999, 03.07.2015